Wir leben in politischen Zeiten, in denen vieles Realität oder möglich geworden ist, was eine gute Zukunft erschwert. Inzwischen kann man nicht einmal ausschließen, dass wir Ende des Jahres einen amerikanischen Präsidenten Trump bekommen, der Ressentiments an die Stelle politischer Konzepte setzt. Egozentrische Autokraten wie Putin oder Erdogan sind ebenfalls unberechenbar.

Umso wichtiger wäre es, dass die Europäische Union ein Hort der Vernunft ist. Doch was für ein Schlamassel*! Mit dem Brexit-Votum haben die Briten den ohnehin schon großen Herausforderungen eine weitere – ziemlich überflüssige – hinzugefügt.

Die Protagonisten des Brexit haben sich bei ihrer Kampagne vor Lügen nicht gescheut und inzwischen ebenso aus der Verantwortung gestohlen wie Premier Cameron, der das Referendum aus innenpolitischen Gründen angezettelt hat. Es ist fatal, dass es für eine so grundlegende Frage, die vier Jahrzehnte EU-Mitgliedschaft beendet, kein angemessenes Quorum gab, wie etwa bei uns bei einer Verfassungsänderung.

Der knappe Wahlausgang hinterlässt nun eine gespaltene Nation: zwischen Engländern und Walisern einerseits und Schotten und Nordiren andererseits. Oder zwischen Alt und Jung. Beide Seiten haben mehrheitlich jeweils anders votiert. Sollte in Schottland eine Volksabstimmung zur Abspaltung führen, wäre das Königreich nicht länger vereinigt.

Wer weiß schon, ob die Stimmung in der Bevölkerung Großbritanniens nicht in zwei Jahren eine ganz andere ist. Wird dann eine britische Regierung, den nächsten Unterhaus-Wahltermin schon vor Augen, den Austritt am Ende auch tatsächlich vollziehen wollen? Wie treffend passt hier das durch Reich-Ranicki bekannte Zitat aus Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen: Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Es ist verständlich, dass die EU-Kommission darauf drängt, dass Großbritannien das Austrittsschreiben möglichst bald nach Brüssel schickt, um Klarheit zu haben. Auf der anderen Seite: Hierdurch wird ja erst der Startschuss für zweijährige Verhandlungen gegeben, bei denen noch viel passieren kann. Also sollte man gelassener sein. Und es ist durchaus richtig, dass diese – historische – Nachricht erst von der neuen Premierministerin auf den Weg gebracht wird. Sie muss schließlich anschließend verhandeln.

Das Tor zu Europa sollte den Briten nicht endgültig zugeschlagen werden. Das wäre schon mit dem europäischen Anspruch der Wertegemeinschaft und guten Freundschaft nicht vereinbar. Klar ist: es darf keine Rosinenpickerei geben, damit Präzedenzfälle vermieden werden. Sollten sie Zugang zum freien Warenverkehr haben wollen, müssen die Briten auch die Personenfreizügigkeit und anteilige Zahlungen akzeptieren. Aber diese Option könnte – unter den gegebenen Umständen – in beiderseitigem Interesse sein.

Was ist nun im verbleibenden Teil der EU zu tun? Soll man auf weitere Vertiefung setzen? Oder im Gegenteil den Nationalstaaten mehr Freiheiten einräumen? Für beide Richtungen gibt es in der europäischen Familie Stimmen und Stimmungen. Wer Europa zusammenhalten und nicht weiter spalten will, muss dies berücksichtigen. Man wird also eher noch variabler als bisher agieren müssen. In jedem Falle muss man aber das europäische Projekt offensiv verteidigen und neue Impulse setzen.

Sigmar Gabriel und Martin Schulz haben in einem gemeinsamen Namensartikel Reformen gefordert und Vorschläge hierfür unterbreitet. Als maßgebliche Kriterien nannten sie, dass

  • es in Europa wieder Wachstum und wirtschaftlichen Aufschwung gibt und es gerechter zugeht,
  • Europa sich um die Gestaltung der Zukunftsaufgaben kümmert,
  • es demokratischer und transparenter wird und
  • es seinen Beitrag zu einem nachhaltigen Frieden und zu mehr Sicherheit im Inneren leistet.

Das gilt es nun konsequent anzupacken.