Standpunkt aus Berlin Depesche Nr. 98 (Juni 2016)

Wir leben in bewegten Zeiten. Gesellschaftliche Umbrüche und Krisen, deren Ursachen oft global sind, stellen die Politik vor neue Herausforderungen und verunsichern viele Menschen. Stichworte der letzten Jahre sind: Banken-, Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise, Bedrohung durch Krieg, Terrorismus und religiösen Fanatismus, aber auch Veränderungen der Arbeitswelt durch Digitalisierung und gewachsene Anforderungen für jeden Einzelnen.

Demgegenüber treten positive Zahlen wie ein Rekord an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie steigende Nettolöhne und Renten in Deutschland völlig in den Hintergrund.

Die Flüchtlingskrise hat auch bei uns zu einer Polarisierung der politischen Debatte und einem deutlichen Erstarken der Rechtspopulisten der AfD geführt. Nach den letzten Zahlen des ZDF-Politbarometer von Anfang Juni verlöre die Union gegenüber der letzten Bundestagswahl rund neun Prozentpunkte (jetzt 33), die SPD fast fünf (jetzt 21). Wobei bemerkenswert ist, dass die Zahlen für beide noch im Oktober letzten Jahres beinahe identisch mit der Wahl 2013 waren. Und die SPD lag noch Mitte Februar bei 25 Prozent.

Es geht also nicht zwangsläufig um eine langfristige, unumkehrbare Sklerose der Volksparteien sondern um die Zuspitzung der öffentlichen Stimmungslage in Folge der Flüchtlingskrise. In der ist nämlich der Eindruck entstanden, die Politik habe manches nicht im Griff. Verstärkt wurde das durch eine mediale Berichterstattung, die sich oft darin gefällt, Politiker pauschal als unfähig darzustellen. In der letzten Mai-Ausgabe des Cicero hat Thomas Petersen (Institut Allensbach) in einem bemerkenswerten Beitrag unter dem Titel „Die Wurzeln des Populismus“ auf diesen Zusammenhang hingewiesen.

Im Kern aber geht es um Folgendes: das Thema Flüchtlinge hat zu einer emotionalen Polarisierung in der Bevölkerung geführt, die von den Volksparteien nicht mehr ohne weiteres aufgefangen werden konnte. Hier der eine Teil, der noch heute für eine uneingeschränkte Willkommenskultur steht. Dann diejenigen, die differenziert helfen, aber auch keine Überforderung der Integrationsfähigkeit wollen. Und dann der Teil, der schon immer mehr oder weniger ausländerfeindlich war und nun einen Kristallisationspunkt gefunden hat. Drei so unterschiedliche Ansätze kann man nicht von heute auf morgen negieren oder integrieren. Das ist vielmehr ein Prozess, der zudem von vielen Faktoren abhängt.

Wir beobachten negative Entwicklungen leider auch in anderen Ländern. In Polen, Ungarn und der Türkei sind autokratische Regime an der Macht, Großbritannien ringt mit dem Brexit, in Frankreich paralisiert die Angst vor Marie Le Pen. Und in den USA ist nicht ausgeschlossen, dass wir am Ende einen durchgeknallten Präsidenten Trump bekommen. Das muss uns sehr beunruhigen – sollte aber auch Anlass sein, die überhitzte innenpolitische Debatte in Deutschland zu reflektieren und zu einer Differenzierung zu kommen.

Die knappe Präsidentenwahl in Österreich ein Warnsignal sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass Rechtspopulisten die politische Debatte bestimmen und einen Keil in die Gesellschaft treiben. Dagegen müssen alle vernünftigen demokratischen Kräfte eine Politik der Aufklärung und des sozialen Zusammenhalts setzen. Die Union ist dazu derzeit nur bedingt im Stande, wie der tiefe, grundlegende Konflikt zwischen CDU und CSU zeigt. Umso mehr bedarf es einer starken Sozialdemokratie, die mit Selbstbewustsein ihre Werte vertritt und in der Gesellschaft für einen Kurs der Vernunft und Gerechtigkeit wirbt.

Auch vor diesem Hintergrund können einen die schlechten Umfragewerte der SPD nicht freuen, selbst wenn sie letztlich erklärlich sind und nicht dauerhaft sein müssen. Malu Dreyer hat in Rheinland-Pfalz vorgemacht, wie eine geschlossene Partei mit einem glaubwürdigen personellen und inhaltlichen Angebot erfolgreich sein kann. Dies muss für die SPD in den nächsten Monaten Vorbild sein.

Kürzlich ist nach einer FES-Veranstaltung in Köln ein Politik- und Kommunikationswissenschaftler auf mich zugekommen. Er berichtete, er habe vor wenigen Tagen die TV-Sendung Precht zum Thema Gerechtigkeit gesehen. Da stand für ihn die Frage im Raum: alle reden von Gerechtigkeit – aber wer tritt in die SPD ein? Er habe sich dazu entschieden. SPD? Gerade jetzt!