Standpunkt aus Berlin Depesche Nr. 95

Zwischen grenzenloser Zuwanderung und inhumaner Abschottung muss ein vernünftiger Mittelweg gefunden werden. Unseren Werten sind wir es schuldig, Menschen in existenzieller Not nachhaltig zu helfen. Es ist dabei jedoch ein Gebot politischer Vernunft, die Integrationsfähigkeit nicht zu gefährden. Deshalb müssen wir Zuwanderung steuern und begrenzen und massiv in Integration investieren, damit diese erfolgreich sein kann. Zugleich ist Gewalttätern und fremdenfeindlichen Populisten entschieden entgegenzutreten. Eine Spaltung unserer Gesellschaft dürfen wir nicht zulassen. Gedanken zur politischen Lage.Zwischen grenzenloser Zuwanderung und inhumaner Abschottung muss ein vernünftiger Mittelweg gefunden werden. Unseren Werten sind wir es schuldig, Menschen in existenzieller Not nachhaltig zu helfen. Es ist dabei jedoch ein Gebot politischer Vernunft, die Integrationsfähigkeit nicht zu gefährden. Deshalb müssen wir Zuwanderung steuern und begrenzen und massiv in Integration investieren, damit diese erfolgreich sein kann. Zugleich ist Gewalttätern und fremdenfeindlichen Populisten entschieden entgegenzutreten. Eine Spaltung unserer Gesellschaft dürfen wir nicht zulassen. Gedanken zur politischen Lage.

1.Die politische Weltlage

In langfristigen Zeithorizonten gedacht, bin ich zuversichtlich, dass die Welt sich politisch in Richtung Frieden und Freiheit positiv weiterentwickelt. Weil ich an die Vernunft und soziale Kompetenz des Menschen glaube. Doch es ist ein wenig so wie mit dem Unterschied zwischen Klima und Wetter: der Trend zur Erderwärmung schließt kalte Winter nicht aus.

In den letzten Jahrzehnten wurden deutliche Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers und von Krankheiten erzielt. Kolonialismus wurde weitgehend überwunden. Und mit der europäischen Einigung wurde ein Leuchtturm friedlicher Zusammenarbeit entwickelt. Aber derzeit ist vieles aus dem Lot. Der Nahe Osten ist aus den Fugen geraten. Europa scheint durch nationale Egoismen und Rechtspopulismus immer mehr auseinanderzudriften. Das lässt einen frösteln.

Spätestens durch die enorme Zahl von Flüchtlingen merken wir, was Globalisierung wirklich bedeutet. Deshalb müssen wir Außenpolitik immer mehr als Innenpolitik vestehen – und unsere Anstrengungen für eine friedliche, gerechte und humane Entwicklung in der Welt im Rahmen unserer Möglichkeiten verstärken.

2. „Über das Meer“: Von der Not der Flüchtlinge

Das Buch „Über das Meer“ schildert die dramatische, lebensgefährliche Flucht von Syrern über Ägypten und das Mittelmeer nach Europa. Der Autor Wolfgang Bauer, ein „Zeit“-Reporter, hatte sie undercover begleitet. Es entstand eine authentische Beschreibung einer humanitären Katastrophe: über die Not in der Heimat, Todesängste und rivalisierende Schlepperbanden, die Flüchtlinge gegenseitig entführen. Am Ende plädiert der Autor leidenschaftlich für eine humanitäre Flüchtlingspolitik Europas. Und man stimmt ihm sofort aus vollem Herzen zu.

3.Mein Seismograph

Meine Tante Rosi ist traditionell so etwas wie mein Seismograph der Stimmung im Volk. Flüchtlingskind, Bergarbeiterfamilie, Kindergärtnerin. Eine typische SPD-Stammwählerin im Ruhrgebiet mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. In besonderen Lagen frage ich sie gerne, wie sie die Dinge denn so sieht.

Im Sommer war ihr angesichts des Flüchtlingsdramas an Europas Grenzen sofort klar: „Wir müssen helfen!“ Im Herbst, als erstmals eine Milllionenzahl prognostiziert wurde, die in unser Land kommt, wuchsen die Zweifel, ob denn alles gut werde. Und nun, im Winter, berichtet sie von besorgten Gesprächen mit ihrem Freundeskreis und der gemeinsamen Einschätzung: „Das Herz sagt: Ja. Aber der Kopf sagt: es wird zu viel.“

Mir fällt dabei gleich der Satz unseres Bundespräsidenten Joachim Gauck vom Oktober ein: „Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“

4. Der Bundespräsident

Joachim Gauck hat in seiner kürzlichen Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos noch einmal seine differenzierte Sichtweise erläutert. Eine Gesellschaft, die sich als Solidargemeinschaft versteht, handele auch Flüchtlingen gegenüber aus einem solidarischen Geist heraus. Dennoch könne eine Begrenzungsstrategie moralisch und politisch geboten sein, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten und die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft für eine menschenfreundliche Aufnahme von Flüchtlingen zu sichern.

5. Die Kommunen

Jede Woche kommen derzeit alleine aufgrund der Zuweisungen des Landes 350 neue Flüchtlinge nach Köln. Es ist geplant, die Zahl bald auf 500 zu erhöhen. Inzwischen sind schon über 11.000 Flüchtling durch die Stadt untergebracht. Angesichts der ohnehin angespannten Lage auf dem Kölner Wohnungsmarkt kann nur ein Bruchteil in normale Wohnungen vermittelt werden. Und bislang stehen zu wenig städtische Grundstücke für die Errichtung von neuen Unterkünften bereit. Deshalb werden bereits 21 Turnhallen als  vorübergehende Ausweichquartiere genutzt. Weitere Standorte sind in konkreter Planung. Wenn es so weitergeht, kommt die Stadt in den nächsten Monaten selbst ohne eine Erhöhung der Zuweisungen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Letztlich droht eine fatale Einschränkung des Sportunterrichts an Schulen und des Vereinssports. Mit absehbaren Folgen für die Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung.

Bereits in den letzten Wochen mussten Vertreter der Stadt bei Informationsveranstaltungen einen deutlichen Stimmungsumschwung nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln feststellen. Weg von einer grundsätzlich positiven Haltung gegenüber Flüchtlingen hin zu einer zunehmend agressiven Ablehnung.

6.Die Flüchtlingsinitiativen

Ohne die vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern wäre der große Andrang noch schwerer zu bewältigen. Ihnen gebührt unser großer Dank! In einem kürzlichen Gespräch berichteten mir Kölner Flüchtlingsinitiativen von der ungebrochenen Motivation ihrer Mitglieder. Aber auch von fehlenden Sozialarbeitern und knappen personellen Ressourcen der Stadt. Die wiederum verweist auf die Schwierigkeit, zahlreiche offene Stellen adäquat und zügig zu besetzen.

7. Das Integrationskonzept

Derzeit geht es vor allem darum, die zahlreichen Flüchtlinge einigermaßen menschenwürdig unterzubringen. Die noch größere, bislang einzigartige Herausforderung steht uns aber noch bevor: diejenigen von ihnen, die länger bleiben werden, schnell und erfolgreich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Dafür sind wir bislang überhaupt noch nicht vorbereitet. Deshalb drängt die SPD schon seit längerem auf ein nachhaltiges Integrationskonzept, das mit den notwendigen finanziellen Ressourcen zu unterlegen ist. Hierzu haben wir unsere vordringlichen Forderungen für einen Integrationsplan vorgelegt. Von einer Integrationsoffensive in Kitas und Ganztagsschulen über Sprachkurse und berufliche Bildung bis hin zur Aufstockung der Mittel für den sozialen Wohungsbau um 5 Miliarden Euro.

Bund und Länder haben sich nun darauf verständigt, bis März ein abgestimmtes Integrationskonzept für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive zu entwickeln.

8. Die Begrenzungsstrategie

Je mehr Menschen zu uns kommen, desto schwieriger wird die Integration gelingen. Deshalb ist eine Begrenzungsstrategie auf mehreren Ebenen nowendig.

Ebene 1: Bekämpfung der Fluchtursachen – damit die Menschen erst gar nicht fliehen. Niemand verlässt seine Heimat gerne und ohne Not. Also muss man insbesondere: den Bürgerkrieg in Syrien beenden helfen, den IS zurückdrängen, den Nahen Osten politisch stabilisieren und Flüchtlingslager in der Region so gut und menschenwürdig ausstatten, dass der Leidensdruck sinkt.

Ebene 2: Sicherung der Außengrenzen der EU – damit Zuwanderung gesteuert werden kann. Nach Europa kommende Flüchtlinge müssten solidarisch auf alle Länder verteilen werden, damit niemand überfordert wird.

Ebene 3: Effektive Organisation von Asylverfahren und Integration in Deutschland – damit die, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, einen Platz in unserer Gesellschaft finden und der Zusammenhalt gewahrt wird.

Erste Schritte in diese Richtung sind getan. Doch der Weg zu einer umfassenden Lösung erscheint noch allzu lang. Und radikale Alternativen sind wenig verlockend: ein Abschotten der nationalen Grenzen. Am Ende wird ein vernünftiger und politisch umsetzbarer Mittelweg zwischen grenzenloser Zuwanderung und inhumaner Abschottung gefunden werden müssen. Und das möglichst bald.

9. Die Verunsicherung

Im derzeitigen Zischenstadium ist verständlich, dass viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert sind. Dazu haben ganz entscheidend die schrecklichen Ergeignisse in der Silvesternacht in Köln beigetragen. Weil sie den Eindruck vermittelt haben, der Staat habe die Lage nicht unter Kontrolle. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass im Bereich öffentliche Sicherheit nachgelegt wird: durch mehr Polizeibeamte, eine Verschärfung des Sexualstrafrechts und konsequente Aufklärung und Verfolgung von Straftätern.

10. Die Rattenfänger

Derzeit erreicht die Zahl der Briefe und Mails an mich als Abgeordneten neue Rekordhöhen. Neben besorgten,  aber konstruktiven Zuschriften gibt es leider auch etliche mit erschreckend fremdenfeindlichen Beschimpfungen. Pegida und AfD versuchen, negative Stimmungen zu befeuern und ihr Süppchen darauf zu kochen. Gleichzeitig wächst die Anzahl von Anschlägen auf Asylheime. Die Rattenfänger versuchen, einen Spaltpilz in unsere Gesellschaft zu tragen. Das dürfen wir nicht zulassen. Jeder Form von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit müssen wir entschieden engegentreten.

11. Plädoyer für eine konstruktive Debatte

Um die gewaltigen Herausforderungen bewältigen zu können, brauchen wir eine offene Debatte, die Probleme benennt und verständliche Sorgen der Menschen ernst nimmt – aber am Ende eben auch konstruktive Lösungen ermöglicht. Deutschland steht vor einer großen Bewährungsprobe. Wir werden sie meistern, wenn wir Solidarität mit Vernunft kombinieren.