Standpunkt aus Berlin Depesche Nr. 92

Die Herausforderung der großen Flüchtlingsströme erfordert von Deutschland und Europa solidarisches Handeln und die Vermeidung von Überlastungen

In den Sommermonaten haben uns schreckliche Bilder von toten Flüchtlingen in Europa erschüttert. Zugleich haben wir in Deutschland eine große Welle der Hilfsbereitschaft erlebt. Diese Willkommenskultur gilt es zu bewahren.

Niemanden sollte es kalt lassen, wenn Menschen Gefahren für Leib und Leben in Kauf nehmen, um Folter oder Krieg zu entfliehen. Gerade politisch Verfolgten und Kriegsflüchtlingen müssen wir mit offenen Armen gegenübertreten. Das ist eine menschliche Regung und eine moralische Pflicht, und zwar nicht nur im Hinblick auf unsere Geschichte, die mit Flucht und viel Leid verbunden ist.

Zugleich müssen wir uns sehr bewusst sein, vor welch großen Herausforderungen wir angesichts der in den letzten Wochen und Monaten drastisch gestiegenen Flüchtlingszahlen stehen. Noch 2012 gab es lediglich 50.000 anhängige Asylverfahren . 2014 waren es 170.000. In diesem Jahr wird nun mit einem Zustrom von über 800.000 Schutzsuchenden gerechnet. Derzeit sind es 10.000 täglich. Darauf sind wir nicht vorbereitet, auch wenn die tatkräftige Hilfe vieler Haupt- und Ehrenamtlicher überwältigend ist. Hilfskräfte und Kommunen stoßen zunehmend an die Grenzen der Belastung. Und niemand kann mit Bestimmtheit voraussagen, wie sich die Zahlen weiter entwickeln werden.

Fest steht: Deutschland ist ein starkes und solidarisches Land. Es kann vieles schultern. Aber auch unsere Aufnahmefähigkeit ist letztlich nicht unbegrenzt. Vor allem dann nicht, wenn man im Blick hat, dass Integration Zeit braucht und die Integrationsfähigkeit eines Landes auch davon abhängt, dass es einen gesellschaftlichen Konsens über Zuwanderung gibt. Wenn aber die Menschen das Gefühl haben, die Lage gerate außer Kontrolle, kann die bisher positive Stimmung einer Mehrheit der Bevölkerung schnell kippen.

Deshalb ist es gut, dass sich Bund und Länder Ende September auf ein wichtiges und weit reichendes Maßnahmenpaket zur Bewältigung und Begrenzung der Flüchtlingszahlen geeinigt haben. In relativ kurzer Zeit wurde dadurch Einigungs- und Handlungsfähigkeit bewiesen. Der Bund übernimmt pro Flüchtling eine feste Kostenpauschale. Dadurch werden Länder und Kommunen finanziell deutlich entlastet. Ganz wichtig ist auch die geplante Beschleunigung und Vereinfachung von Asylverfahren. Je schneller Asylberechtigte und Kriegsflüchtlinge wissen, dass sie bleiben können, umso eher gelingt die Integration. Umgekehrt gilt: wer keinen Anspruch hat, muss anderen Platz machen. Es sollte großzügige Härtefallregelungen geben, aber letztlich sind auch unbequeme Entscheidungen zu treffen – so sehr man jeden Menschen versteht, der etwa aus wirtschaftlichen Gründen zu uns will.

Wenn wir undifferenziert alle aufnehmen wollten, würden wir zur Hilfe bald nicht in der Lage sein. Zumal wir umso mehr Menschen motivieren würden, zu uns zu kommen. Wir müssen solidarische Lösungen in Europa einfordern und EU-Außengrenzen sichern, um den Druck auf Deutschland zu senken. Die kürzliche Einigung in der EU auf eine Verteilung von 120.000 Flüchtlingen ist ein wichtiger Schritt, kann aber nur ein Anfang sein.

Unabdingbar ist zudem die Bekämpfung von Fluchtursachen, etwa im Hinblick auf die Beseitigung der unhaltbaren Zustände in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens. Nicht zuletzt ist die internationale Gemeinschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer friedlichen Entwicklung in Syrien und anderen Ländern zu leisten, damit Menschen dort ohne Angst leben können. Niemand gibt seine Heimat leichten Herzens auf.

Manches wird wohl nicht sofort so umsetzbar sein, wie wir uns das eigentlich wünschten. Deshalb brauchen wir neben Entschlossenheit ein gehöriges Maß an Geduld und Beharrlichkeit. Und vor allem die Bewahrung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses. Rechtsradikalismus, Gewalt und Ressentiments gegen Ausländer müssen wir entschieden entgegen treten. Das wird umso eher gelingen, wenn man Sorgen aus der Bevölkerung nicht ignoriert, sondern mögliche Probleme offen anspricht. Deren Bewältigung müssen wir konsequent angehen: zuversichtlich, solidarisch und mit einem realistischen Blick.