Standpunkt aus Berlin Depesche Nr. 91

Werden die griechische Regierung und Europa ihrer Verantwortung gerecht?

Die Mehrheit der Griechen hat sich in einem überraschend angesetzten Referendum gegen ein europäisches Verhandlungspaket ausgesprochen, das für sie neben Finanzhilfen auch Spar- und Reformauflagen vorsah. Damit sollten eigentlich die Zahlungsfähigkeit gesichert, eine positive wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht und das Verlustrisiko für die Geberländer begrenzt werden.

Ministerpräsident Tsipras ist es durch Chuzpe, Charisma und nationales Pathos gelungen, im Land überwiegend eine Stimmung zu erzeugen oder aufzugreifen, nach der die Ursache für das vorläufige Scheitern der Verhandlungen und die Not der Menschen an den europäischen Institutionen festzumachen sei. Tatsächlich haben die Griechen vorzeitig den Verhandlungstisch verlassen, obwohl sie die schwerwiegenden Folgen kannten. Das bisherige Hilfsprogramm ist dadurch ausgelaufen, die Zahlungsfähigkeit des Staates und der Banken in Frage gestellt. Gleichzeitig sind nun neue europäische Finanzhilfen politisch und rechtlich deutlich schwerer umsetzbar.

Griechenlands politische Strategie zielt darauf ab, durch moralischen Druck den 18 anderen Euro-Staaten die eigene Philosophie aufzuzwingen, um Milliardenhilfen und Schuldenerlass im Wesentlichen ohne Sparauflagen und durchgreifende Strukturreformen zu erhalten. Darauf können sich diese jedoch nicht einlassen. Ein solcher Weg würde die Probleme des Landes nicht lösen und die Glaubwürdigkeit der Regeln der Währungsunion zusätzlich unterminieren. Sie ist gerade nicht als Transferunion konzipiert. Das zu ignorieren wäre letztlich der Sprengsatz für die Eurozone.

Solidarität kann derjenige einfordern, der sich auch selbst solidarisch verhält und zu Eigenverantwortung bereit ist. Die bislang fehlende Kompromissfähigkeit und konfrontative Kommunikation der griechischen Regierung hat die Zweifel der anderen Euroländer dramatisch vergrößert, dass Griechenland diesen Grundsatz unterstützt und einen erfolgreichen finanz- und wirtschaftspolitischen Kurs einschlagen wird, der das Land nicht zum Fass ohne Boden macht.

Tsipras ideologiegetriebener Kurs hat seinen Verhandlungsspielraum nicht vergrößert, sondern weitere europäischen Hilfen und eine positive wirtschaftliche Entwicklung deutlich erschwert und die sozialen Folgen verschärft. Wie können die anderen Partner ihrer Wählerschaft erklären, dass man seit Jahren Unterstützungsprogramme für Griechenland mitfinanziert, aber dann, wenn zugesagte Strukturreformen und Haushaltsdisziplin angemahnt werden, einzelne Verhandlungspartner vom griechischen Finanzminister sogar als „Terroristen“ angegriffen werden? Wie sollen das insbesondere Regierungen vertreten, deren Bevölkerung immer noch über ein geringeres Einkommen als die Griechen verfügt oder die ihrerseits in Krisen (durchaus mit Erfolg) schwere Reformen umgesetzt haben?

Die Verunsicherung des griechischen Volkes ist verständlich. Es hat in den letzten Jahren viel erlitten, musste nach dem Platzen der Schuldenblase zum Teil dramatische Einkommensverluste hinnehmen. Und niemanden in Europa darf kalt lassen, dass es gerade die Schwächsten sind, die unter der Lage besonders leiden. Ihnen zu helfen gebietet die europäische Solidarität. Immer deutlicher wird aber auch: für notwendige Reformen gibt es in Griechenland offenbar weiterhin zu wenig politischen Willen und Unterstützung. Das ist fatal, weil der Teufelskreis so nicht durchbrochen werden kann.

Der neue Finanzminister Tsakalotos fordert eine nachhaltige Lösung für sein Land. Die ist in der Tat überfällig. Es ist aber zu hoffen, dass er und die Mehrheit der Griechen nicht nur vor allem Geldzahlungen von anderen erwarten. Denn die entscheidende Frage ist: was tut die griechische Regierung dafür, die offensichtlichen Strukturprobleme anzugehen? Und wie wird sie darin vom Volk unterstützt? Wie wird die Klientelgesellschaft überwunden, wie ein effizienter Staat organisiert, ein gerechtes Steuersystem, eine funktionierende Verwaltung? Wie wird Vertrauen aufgebaut, damit Unternehmen investieren und die europäischen Partner auch weiterhin solidarisch unterstützen?

Die Chance der Krise ist, dass der Druck wächst, Fehler zu erkennen und abzustellen. Die nächsten Tage bis zum EU-Gipfel am 12. Juli werden zeigen, ob es in der Eurozone einen glaubwürdigen Neustart mit nachhaltigen Lösungen gibt. Nur mit konsequenten Strukturreformen, die Investitionen, Wachstum sowie Vertrauen schaffen und soziale Härten vermeiden, wird es für Griechenland eine gute Perspektive geben.