Der gesamte Antrag zum Download (Drs. 17/8572) so wie ein Auszug des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion:

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

A. Chancen des Strukturwandels nutzen

Deutschland ist aufgrund seines industriellen Kerns verhältnismäßig gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Kein anderes Land in Europa verfügt über eine so breite industrielle Wertschöpfungskette wie Deutschland. Die besondere Stärke des Wirtschaftstandorts gründet auf dem Zusammenspiel der Industrieunternehmen – vor allem einem starken Mittelstand – und den damit verflochtenen Dienstleistungen. Denn Industrie und Dienstleistungen sind kein Gegensatz: Der Ausbau moderner Industrien ist stets gekoppelt an nach- gelagerte und vor allem hochwertige Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich; umgekehrt wären weite Teile der Dienstleistungswirtschaft ohne eine starke industrielle Produktion in Deutschland jedoch nicht vorhanden.

Auch in Zukunft braucht Deutschland eine starke Industrie – rund jeder dritte Arbeitsplatz hängt hierzulande an der Entwicklung industrieller Wertschöpfung. Mit der industriepolitischen Tatenlosigkeit der Bundesregierung können die veränderten Rahmenbedingungen der globalisierten Märkte allerdings nicht gemeistert werden. Deutschland muss durch eine aktive, zukunftsorientierte Industriepolitik wieder besser regiert werden.

Denn die deutsche Industrie steht vor grundlegenden Herausforderungen: Globalisierung, Umwelt- und Klimaschutz mit dem langfristigen Ziel, die ambitionierten, nationalen Klimaziele zu erreichen, Rohstoff- und Flächenverknappung, technologische Innovationen und demografische Entwicklung sind Trei- ber eines Strukturwandels, der auch die Industrie weiter verändern wird. Funk- tionsfähige Finanzmärkte sind eine wesentliche Voraussetzung für eine leistungsfähige Industrie und zentrale Voraussetzung für Investitionen. In den vergangenen Jahren haben ungezügelte Spekulationen an den Finanzmärkten großen Schaden angerichtet. Die Lehre muss lauten, dass die Finanzmärkte reformiert und neu geordnet werden müssen. Kein Finanzmarktakteur und kein Finanzprodukt dürfen unreguliert bleiben. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik müssen sich jetzt auf die Herausforderungen einstellen.

Mit Sorge ist in diesem Zusammenhang zu beobachten, wie die Probleme der Industrie und der Produktion immer stärker aus dem öffentlichen Bewusstsein geraten. Daher muss es bei einer Modernisierungsdebatte auch darum gehen, einen Diskurs zu Rolle und Selbstverständnis sowie gesellschaftlicher Akzeptanz einer zukunftsorientierten Industrie zu führen.

Europas Industrie ist zu modernisieren – Europas Krise muss mit einem „Industriellen Erneuerungsprogramm“ für Europa (European Industrial Recovery Program) beantwortet werden. Ziel sind Investitionen in die industrielle Modernisierung, in Forschung und Entwicklung, um die Stärken der jeweiligen Länder zu stärken.

Der Wettbewerb zwischen Industrieländern und schnell wachsenden Schwellenländern wird immer schärfer. Die Industrie der EU konkurriert mit China, Brasilien, Indien und anderen Schwellenländern auch um hochwertige Produkte, die weltumspannende Arbeitsteilung nimmt an Intensität zu. Die Vorstellung von nationalen Sektoren und Industrien, die kaum in Wechselwirkung mit der
übrigen Welt stehen, entspricht immer weniger der Wirklichkeit. Die Industrienation, die es schafft, die Infrastruktur, die Energiefrage, die Produkt- und Produktionsbasis im eigenen Land nachhaltig auszurichten und dabei den Wohlstand der Gesellschaft zu erhalten und gleichzeitig angepasste Lösungen für nachholende Nationen zu entwickeln, wird wirtschaftlich die Nase vorn haben.

Dabei muss es auch darum gehen, im In- und Ausland der ökologischen, sozialen und menschenrechtlichen Verantwortung gerecht zu werden. Orientierung für Staaten und Unternehmen bieten dabei die ILO-Kernarbeitsnormen, die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen und die UN-Leitlinien zu Wirtschaft und Menschenrechten.

Hinter dem jüngsten Erfolg der deutschen Industrie stehen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ohne ihre Kreativität und ihr Engagement in den Unternehmen und Betrieben wäre ein solcher Erfolg nicht möglich. Aus diesem Grund stehen die Beschäftigten im Vordergrund einer zukunftsorientierten Industriepolitik. Entscheidend für die Entwicklung und Zukunft des Standortes ist die
Kooperation der kreativen Köpfe in Industrie, Dienstleistungen und Wissenschaft. Dabei geht es vor allem auch um die Gestaltung der Arbeitswelt von morgen: Wissen und Information entscheiden zunehmend über wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und berufliche Perspektiven der Beschäftigten. Diese Veränderungen bewirken einen Wandel der Arbeitsstrukturen und -verhältnisse. Die Neubewertung der Arbeit steht im Zentrum der Politik der kommenden Jahre. Sie ist eine Schlüsselfrage der Zukunft. Die Industrie ist durch den aufgewerteten Faktor Arbeit zu stabilisieren und zukunftsfest zu machen. Industriepolitik muss sich ebenso am Leitbild der „Guten Arbeit“ orientieren, wie gute Arbeitspolitik am Leitbild einer innovations- und qualifikationsorientierten Industrie.

Traditionelle und neue Industrien dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die klassischen industriellen Kernkompetenzen Deutschlands liegen bisher im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, der Elektrotechnik, dem Schiffbau, dem Stahl oder dem Automobilbau. Sie bilden das Rückgrat der Wirtschaft und haben grüne Technologien erst ermöglicht. Es geht auch für
unsere klassische Industrie um verlässliche Rahmenbedingungen und vor allem eine nachhaltige, bezahlbare Energieversorgung. Mit der Energiewende eröffnen sich zudem neue Potenziale für die deutsche Industrie und Perspektiven für neue, hochqualifizierte Arbeitsplätze.

Es bedarf einer nachhaltigen Industriepolitik statt unregulierter Märkte. Der Strukturwandel ist offensiv anzugehen. Ökonomische Effizienz, soziale Balance, effiziente Nutzung und Schonung der natürlichen Ressourcen sind Eckpunkte einer solchen Strategie. Mit einer Modernisierung der Industrie müssen heute die Arbeits- und Lebensperspektiven zukünftiger Generationen gestaltet werden.

Der Markt muss klare Rahmenbedingungen haben. Auf vielen Feldern sind politisch gesetzte Anreize und Leitplanken erforderlich, um Industrieproduktion zukunftsfähig zu machen und nachhaltig zu gestalten. Die Politik muss dies auch gegen Widerstände durchsetzen. Das bedeutet allerdings keine staatliche Alleinzuständigkeit für die Wirtschaftsentwicklung. Die Geschichte zeigt, dass eine solche Alleinzuständigkeit eher das Gegenteil von positiver wirtschaft- licher und gesellschaftlicher Entwicklung ist. Aber die zunehmenden Eingriffe z. B. durch Kartelle und Verträge zwischen Staaten zur Sicherung der Rohstoff- lieferungen machen deutlich, dass wachsende Teile von wirtschaftlichem Han- deln nicht allein über das Marktgeschehen gestaltet werden und auch in Zukunft nicht gestaltet werden können.

Ziel muss sein, die Bedeutung der Industriepolitik innerhalb einer modernen Wirtschaftspolitik wieder zu erkennen, ihr einen besonderen Stellenwert einzu- räumen und aktive Industriepolitik zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie Vollbeschäftigung und als Kernelement zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu fördern.

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