Artikel aus Berlin Depeche Nr. 67

Vorstandswahlen, wichtige Beschlüsse und viel beachtete Reden

Vom 4. bis 6. Dezember fand in Berlin der Bundesparteitag der SPD statt. Er stand unter dem Motto: „Unser Kapital: Demokratie und Gerechtigkeit“. Sowohl inhaltlich wie auch personell wurde ein deutliches Signal des Aufbruchs gesetzt. Viel beachtet waren vor allem die starken Reden von Helmut Schmidt, Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück.

Mit wichtigen Beschlüssen in der Steuer- und Finanzpolitik, für Europa, Bildung, Gesundheit, Arbeit, Rente, Familie und für mehr direkte Demokratie entwickelt die SPD ihre Programmatik weiter. Mit einer Parteireform erneuert sie die Parteiorganisation. Das Ziel ist nun die Regierungsübernahme 2013.

Bei den Vorstandswahlen wurde Sigmar Gabriel mit 91,7 Prozent als Parteivorsitzender bestätigt. Hannelore Kraft, Aydan Özoguz, Olaf Scholz, Manuela Schwesig und Klaus Wowereit wurden als stellvertretende Vorsitzende gewählt. Andrea Nahles bleibt Generalsekretärin, Barbara Hendricks Schatzmeisterin.

Einen besonderen Schwerpunkt des Parteitags bildete das Thema Europa: mit prominenten Gastrednern von Helmut Schmidt über den Präsidentschaftskandidaten der französischen Sozialisten, Francois Hollande bis hin zum norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg. Im Parteitagsbeschluss positionierte sich die SPD klar als die Europapartei Deutschlands: mit einer Stärkung der Institutionen, Solidarität mit den Partnern – aber auch scharfer Kontrolle der Haushaltsdisziplin und einer Rückbesinnung auf das Prinzip der Subsidiarität.

Um Europa langfristig als erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialraum und eine starke politische Kraft in der globalen Welt von heute zu etablieren, spricht  sich die SPD für eine Europäische Wirtschaftsregierung aus. Eine abgestimmte Wirtschaftspolitik müsse dafür sorgen, dass Europa wirtschaftlich nicht auseinanderdrifte, sondern gemeinsam wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt erreiche.

Grundlage sozialdemokratischer Europapolitik ist die Überzeugung, dass ein Rückfall in nationalstaatlichen Chauvinismus den Wohlstand und die Bedeutung in allen Mitgliedstaaten massiv gefährde. „Wir brauchen ein klares Bekenntnis zur europäischen Solidarität. Wir lassen uns von den Märkten nicht auseinandertreiben“, forderte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Scharf kritisierte er das Krisenmanagement der Bundesregierung: „Europa brennt“, und Schwarz-Gelb bleibe eine Antwort schuldig.

Auch Altkanzler Helmut Schmidt, der gleich zu Beginn des SPD-Bundesparteitags eine bewegende Rede zu den Delegierten und Gästen des Parteitages hielt, ließ an der Bundesregierung in puncto Europapolitik kaum ein gutes Haar. „Wenn ein deutscher Außenminister meint, dass ein Besuch in Kabul und Tripolis wichtiger sei als Athen, Lissabon und Dublin, und andere meinen, sie müssten eine Transferunion verhüten, dann ist das eine schädliche deutsch-nationale Kraftmeierei.“

Ihm bereite Sorge, dass bei den europäischen Nachbarn erhebliche Zweifel an der Stetigkeit deutscher Politik aufgetaucht sind. Die deutsche Volkswirtschaft habe sich zur größten und leistungsfähigsten Europas entwickelt. Diese Stärke und der soziale Friede im Land habe auch Neid ausgelöst, so Schmidt. „Doch uns ist nicht ausreichend bewusst, dass wir von der Weltkonjunktur abhängig sind.“

In seinem Plädoyer für Europa rief er den SPD-Mitgliedern zu: „Lasst uns dafür kämpfen, dass die historisch einmalige Europäische Union aus ihrer gegenwärtigen Schwäche gestärkt hervorgeht.“

 

Zusammenfassung wichtiger Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages

Organisationspolitisches Grundsatzprogramm

Die SPD will die Rechte ihrer Mitglieder in beispielloser Weise stärken, Frauen stärker fördern und offener für Menschen mit Migrationshintergrund werden. Die SPD setzt sich das Ziel, dass in allen Führungsgremien der Bundespartei zukünftig 15 Prozent der Mitglieder über eine Migrationsgeschichte verfügen.

Die Mitglieder der SPD erhalten so viel Mitsprache wie noch nie zuvor: Mitgliederbegehren und Mitgliederentscheide werden erleichtert. Das Quorum wird gesenkt. Der Mehrheits-Entscheid ist bereits erfolgreich, wenn sich mindestens ein Fünftel der Stimmberechtigten beteiligt hat (bisher musste ein Drittel der Mitglieder zustimmen). Die Mitglieder können künftig auf allen Gliederungsebenen Sachentscheide durchführen.

Wir wollen die Partei für Unterstützer öffnen. Gliederungen können – wie bisher – bei der Aufstellung von Einzelkandidaten/innen für öffentliche Ämter und Mandate Nichtmitglieder beteiligen, wenn es mindestens zwei Kandidat/innen gibt.

Die Arbeitsgemeinschaften werden durch Themenforen ergänzt. Ihr Einfluss auf die Bundespolitik steigt: Die Themenforen und Arbeitskreise auf Parteivorstandsebene erhalten Rede- und Antragsrecht auf dem Bundesparteitag. Der Anreiz für Nichtmitglieder (Unterstützer/innen), bei der SPD mitzuwirken, wird erhöht: Nichtmitglieder können in den Arbeitsgemeinschaften und Themenforen volle Mitgliedsrechte erhalten.

Die Parteigremien werden so umgebaut, dass vor allem die Basis mehr Einfluss erhält. Der Parteivorstand wird von 45 auf 35 Mitglieder verkleinert. Das Präsidium wird abgeschafft. Der Parteivorstand wird damit als Führungsgremium der SPD gestärkt. Er tagt alle zwei Wochen.

Es wird ein Parteikonvent mit 200 Delegierten eingeführt, der an die Stelle des bisherigen Parteirates tritt. Der Parteikonvent hat den Charakter eines „kleinen Parteitages“. Er wird das wichtigste Parteigremium zwischen den ordentlichen Bundesparteitagen und hat im Gegensatz zum heutigen Parteirat echte Entscheidungskompetenzen. Zusätzlich tagt einmal im Jahr eine Konferenz der Unterbezirks- und Kreisvorsitzenden. Um die Gliederungen zu stärken, wird der Bundesparteitag vergrößert. Statt 480 Delegierte sollen ihm 600 angehören.

Den Wert der Arbeit und die Lebensqualität im Alter erhöhen

Für die SPD steht der Wert der Arbeit im Mittelpunkt unserer Politik. Sie will einen Arbeitsmarkt ohne Armutslöhne. Die SPD fordert einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 €. Jeder, der Vollzeit arbeitet, muss davon ohne weitere Unterstützung leben können. Frauen und Männer sollen das gleiche verdienen und gleiche Aufstiegschancen haben. Die SPD will ein neues Gleichgewicht von Arbeit und Leben ermöglichen, indem die Beschäftigten mehr Zeitautonomie erhalten

Der Missbrauch von Minijobs und Leiharbeit muss beendet werden. Als ersten Schritt soll eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit bei Minijobs auf 12 Stunden eingeführt werden. Der Grundsatz „gleiches Geld für gleiche Arbeit“ muss für Stammbeschäftigte und Leiharbeiter ohne Ausnahme gelten.

Den für 2012 vorgesehenen Einstieg in die Rente mit 67 will die SPD aussetzen, bis mindestens 50 Prozent der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Der Übergang in die Rente soll flexibler gestaltet werden, weil starre Regeln nicht der persönlichen Leistungsfähigkeit der Menschen gerecht werden. Zeiten geringen Verdienstes sowie der Arbeitslosigkeit sollen bei der Berechnung der Rente höher bewerten werden. Im Alter soll niemand nach einem langen Erwerbsleben auf Grundsicherung angewiesen sein.

Fortschritt und Gerechtigkeit: Wirtschaftlicher Erfolg, solide Finanzen und sozialer Zusammenhalt

Deutschland ist besser durch die Weltwirtschaftskrise gekommen als die meisten anderen Länder. Doch immer mehr Menschen werden vom Wohlstand abgekoppelt. Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit, aber die Zahl der schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsplätze steigt. Die SPD will, dass wirtschaftlicher und technischer Fortschritt allen Menschen zu Gute kommt. Die SPD will Schulden abbauen, Steuern gerecht gestalten und in Bildung und Kommunen investieren.

Dafür müssen die Finanzmärkte konsequent reguliert werden. Die SPD fordert u.a. eine Spekulationssteuer (Finanztransaktionssteuer) mindestens im Euro-Raum einzuführen und bestimmte hochspekulative Geschäfte zu verbieten. Eine schlagkräftige europäische Aufsicht für Banken, Versicherungen und Wertpapiere soll ebenso aufgebaut werden wie die effektivere Kontrolle von Ratingagenturen.

Um nachfolgende Generationen zu entlasten, müssen die Schulden abgebaut werden. Deshalb will die SPD die konjunkturellen Steuermehreinnahmen dafür verwenden, die Neuverschuldung zu senken. Die SPD macht keine Steuersenkungsversprechen, für die neue Schulden aufgenommen werden müssten. Unnötige und ökologisch nachteilige Subventionen sollen ebenso abgebaut werden wie selektive Steuerbegünstigungen, wenn sie nicht zielgerichtet sind, keine sozialen Nachteile ausgleichen oder sogar gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten fördern. Insgesamt werden so knapp 15 Mrd. € gesamtstaatlich eingespart, davon 9 Mrd. beim Bund.

Um mehr in Bildung und Kommunen zu investieren, soll der Spitzensteuersatz für Bezieher höherer Einkommen auf 49 Prozent erhöht werden (ab einem jährlichen Einkommen von 100.000 €). Die SPD fordert eine Reform der Vermögens- und Kapitalertragsbesteuerung.

Für Bildung sollen ab 2016 10 Mrd. € mehr an Bundesmitteln zur Verfügung stehen. Um die Lebensqualität für alle zu steigern, sollen die Städte und Gemeinden mehr Geld für Soziales und Kultur zur Verfügung haben. Deshalb sollen Städte und Gemeinden ab 2016 zusätzlich zur Übernahme der Grundsicherungskosten jährlich rund 4 Mrd. € mehr erhalten.

Neuer Fortschritt für ein starkes Europa

Die SPD will die politische Einigung Europas ausbauen, um die Handlungsfähigkeit Europas zu stärken. Dazu gehört, wirtschafts- und finanzpolitisch enger zusammen zu arbeiten und die demokratische Legitimation zu erhöhen.

Um Europa langfristig als erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialraum und als eine starke politische Kraft in der globalen Welt von heute zu etablieren, setzt die SPD sich für eine europäische Wirtschaftsregierung ein. Zu einer Währungsunion gehört eine europaweit abgestimmte stabilitäts- und wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik. Sie muss dafür sorgen, dass Europa wirtschaftlich nicht auseinanderdriftet, sondern gemeinsam wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt erreicht.

Um Europa erst einmal auf eine gesunde finanzielle Basis zu stellen, fordert die SPD, dass:

– alle EU-Mitgliedstaaten ihre Haushalte konsolidieren.

– Krisenstaaten, die den Rettungsschirm beanspruchen, ihre nationale Souveränität in der Stabilitäts- und Finanzpolitik teilweise aufgeben.

– alle Gläubiger einen gerechten Anteil an der Schuldentilgung tragen. Denn es geht nicht, dass ihr Risiko von den Steuerzahlern getragen wird.

– die internationalen Finanzmärkte reguliert werden.

Deshalb brauchen wir eine schärfere Regulierung hochspekulativer Produkte wie z.B. Derivate, höhere Eigenkapitalquoten der Banken, eine echte europäische Bankenaufsicht, ein spezielles Insolvenzrecht für alle Finanzmarktakteure. Die SPD fordert eine europaweite Finanztransaktionssteuer, um den Finanzsektor an den Kosten der Finanz- und Eurokrise zu beteiligen.

Solidarische Gesundheitspolitik für alle Bürgerinnen und Bürger

Die SPD wird gegen eine zunehmende Zwei-Klassen-Medizin vorgehen: Es soll nicht länger von der Versicherungskarte (privat oder gesetzlich) abhängen, wie jemand behandelt wird.

Deshalb fordert die SPD die Bürgerversicherung. Sie gewährleistet Gleichbehandlung und verhindert einen massiven Kostenanstieg für Gesetzlich- und Privatversicherte. Auch für die Pflege wird eine Bürgerversicherung angestrebt, deren Kosten Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu gleichen Teilen tragen. Zudem soll Pflege durch Angehörige und professionelle Helfer aufgewertet und prekäre Beschäftigung zurückgedrängt werden.

Bürgerversicherung im Gesundheitssystem bedeutet: Es gibt nur noch ein Versicherungssystem für alle Bürgerinnen und Bürger. Auch die privaten Versicherungsunternehmen können die Bürgerversicherung anbieten. Damit wird die Bevorzugung von Privatversicherten beendet. Allein die Krankheit ist künftig ausschlaggebend, wie und wann jemand behandelt wird. So werden auch die Privatversicherten vor massivem Beitragsanstieg geschützt, weil es zukünftig keine überhöhte Abrechnung für Behandlungen gibt.

Die Arbeitgeber müssen wieder zur Hälfte an den Kosten des Gesundheitssystems beteiligt werden. Die Arbeitnehmerbeiträge sinken. Aber nur diejenigen Arbeitgeber müssen mehr zahlen, die besonders hohe Löhne zahlen und Boni, wie zum Beispiel Banken und Versicherungen. Eine aufwendige Erhebung von Beiträgen auf Mieten und Vermögen soll es nicht geben, sondern eine Beteiligung durch einen Steuerzuschuss aus der Kapitalbesteuerung. Ein unbürokratisches System.

Netzpolitische Anträge

Der netzpolitische Leitantrag wurde in einigen Teilen online mittels der Software „Adhocracy“ erstellt. Dabei konnte sich jeder Nutzer mit Vorschlägen und Bewertungen beteiligen. Die beiden ergänzenden Anträge zum Breitbandausbau und zur Netzneutralität wurden von Martin Dörmann für die SPD-Medienkommission erarbeitet und vom Parteitag ebenfalls einstimmig verabschiedet.

Die SPD will die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch in der „digitalen Gesellschaft“ verankern. Ohne gleiche Zugänge für alle, ohne gleiche Informationsmöglichkeiten, ohne die materiellen und technischen Voraussetzungen, ohne chancengleiche Bildung wird das Internet ein soziales Medium der Wenigen und nicht der Vielen sein. Die SPD will daher einen Hochgeschwindigkeitszugang für alle und Netzneutralität, also die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Datenpakete unabhängig von Inhalt, Dienst, Anwendung, Herkunft oder Ziel.

Der Zugang zum schnellen Internet ist für uns Teil der Daseinsvorsorge. Deshalb wollen wir die flächendeckende Grundversorgung durch eine europarechtskonforme Universaldienstverpflichtung absichern. Wir wollen prüfen, freie WLAN-Netze in allen städtischen Kommunen gemeinsam mit Stadtwerken oder privaten Partnern vorzuhalten. Die Stellung von Medienpädagogik und die Vermittlung von Medienkompetenz müssen im gesamten Bildungssystem gestärkt werden.

Die SPD will die „digitale Welt“ gestalten und die sozialen Sicherungssysteme auf die bereits bestehenden und wachsenden Arbeitswelten im digitalen Raum ausdehnen. Es muss daher um gerechte Bezahlung und fairen Lohn für kreatives Schaffen gehen, aber auch um die Alterssicherung. Das Konzept „Gute Arbeit“ muss auch im boomenden Wirtschaftszweig rund um die neuen Kommunikationsinstrumente gelten.