Martin Dörmann zur Lage der SPD vor dem Bundesparteitag (Artikel aus der Berlin Depesche Nr. 39).

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Liebe Leserinnen und Leser,

die SPD ist nun seit 9 Jahren an der Bundesregierung beteiligt. In dieser Zeit war sie die Partei, die der Bundespolitik die wesentlichen inhaltlichen Impulse gab. Das gilt im Prinzip bis heute.

Unsere Bilanz kann sich dabei unter dem Strich durchaus sehen lassen – auch wenn einiges sicher noch unvollkommen ist und viele Baustellen bleiben. (Bedenken muss man dabei, dass wir es fast durchgängig mit einer schwarzen Mehrheit im Bundesrat zu tun hatten, der vieles blockieren kann, so dass wir immer wieder zu schmerzlichen Kompro-missen gezwungen waren, so wie jetzt in der Großen Koalition.)

In Deutschland gibt es heute über 700.000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr, mit 26,7 Millionen erreicht die Zahl der sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigten ein Rekord-hoch seit der Wiedervereinigung, die Wirtschaft wächst und die Staatsfinanzen sind auf dem Weg der Konsolidierung. Auch wenn dies alles zu einem Großteil auf eine gute (Export-) Konjunktur zurückzuführen ist – die rot-grünen Reformen tragen nicht unerheblich dazu bei, dass diese positiven Effekte so deutlich wirken können. Denn in den Jahren von Rot-Grün wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass deutsche Unternehmen bei ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit einen großen Sprung nach vorne machen konnten und die Menschen heute schneller in Jobs kommen – etwa durch die Stabilisierung der Lohnnebenkosten, die steuerliche Entlastung des Mittelstandes und Reformen am Arbeitsmarkt.

Unter der Regierung von Gerhard Schröder ist unser Land zudem ökologischer und nachhaltiger geworden: der Atomausstieg wurde beschlossen, Klimaschutz als Thema nach vorne gebracht, erneuerbare Energien gezielt gefördert. In der Außenpolitik trägt Deutschland verstärkt Verantwortung in Europa und in der Völkergemeinschaft, Fehler wie den Irakkrieg haben wir dabei nicht mitgemacht. Deutschland ist heute offener: wir haben ein Zuwanderungsgesetzt geschaffen, die Rechte gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften gestärkt und der Kulturpolitik eine größere Bedeutung verschafft. Ein neues Denken in Dimensionen von Zukunfts- und Generationengerechtigkeit hat begonnen. Nicht zuletzt haben Bildungs- und Familienpolitik einen neuen Stellenwert erhalten.

Die Große Koalition setzt diesen Kurs im Wesentlichen fort. Die starken Minister stellt die SPD, die Union hat keine anderen Akzente setzen können. Die Angriffe der Konservativen auf den Kündigungsschutz und die Mitbestimmung haben wir abgewehrt. In Fragen der inneren Sicherheit unterstützen wir geeignete und erforderliche Maßnahmen gegen Terrorismus, wenn sie verhältnismäßig sind und damit rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Unfug und unangemessene Einschränkungen von Freiheitsrechten lehnen wir ab.

Von den Werten und Zielen, die den Menschen besonders wichtig sind, steht soziale Gerechtigkeit an der Spitze. Gemessen daran ist Deutschland ein sehr sozial-demokratisches Land geworden. Viel mehr, als sich viele zum Ende der Kohl-Ära vorstellen konnten.

Warum aber profitiert die SPD davon nicht in Umfragen?

Gerade weil die SPD heute inhaltlich in der Mitte der Gesellschaft steht und in Zeiten der Umbrüche Regierungsverantwortung trägt, hat sie es schwerer als andere Parteien. In ihr werden stellvertretend die mit der Globalisierung verbundenen Probleme unserer Gesellschaft ausgetragen. Diese ist in Wahrheit selbst hin- und hergerissen zwischen den Wünschen nach Veränderung und Bewahrung. Sie will (wie wir) wirtschaftliche Dynamik und soziale Sicherheit gleichzeitig.

Wer die unterschiedlichen Pole miteinander ausbalancieren und dabei auch gestalten will, wird die Extreme nicht bedienen können. Deshalb ist die SPD heute eingekeilt zwischen dem populistischen Lafontaine, der sich für keine unerfüllbaren Versprechungen zu schade ist und die ökonomische Wirklichkeit ausblendet, und der auf Popularität bedachten Merkel, die sich auf außenpolitische Fragen zurückzieht und deshalb wenig Reibungspunkte bietet.

Ein bekannter Journalist nannte die Kanzlerin kürzlich eine „Frau ohne Eigenschaften„, weil sie in der Innenpolitik immer den leichten Weg gehen will, scheinbar ohne innere Überzeugungen. Die unbequemen Themen überlässt sie der SPD. Leider gefallen sich die Medien mehrheitlich darin, Merkel zu hofieren und im Zweifel kritisch über die SPD zu berichten. Derselbe Journalist begründete dies in etwa so: die Union nicke pragmatisch den Regierungskurs ab, es herrsche Ruhe, selbst Koch habe „Kreide bis zum Hals gefressen“. Das bringe auf Dauer keine interessanten Nachrichten.

Die SPD hingegen sei viel leichter in Schwingungen zu versetzen und reflektiere jede Entscheidung lautstark.

Da ist viel Wahres dran. Im Zweifel wollen wir eben eine lebendige Partei sein, wo die Probleme nicht nur unter den Teppich gekehrt werden. Das zeichnet eine demokratische Mitgliederpartei ja gerade aus.

Das eigentliche, tiefer liegende Dilemma der SPD ist aber nicht ihre Diskussionsfreudigkeit. Es die innere Zerrissenheit jedes einzelnen Mitglieds zwischen Anerkennung und kritischer Distanz zur Politik der Agenda 2010. Der Zwiespalt in uns allen ist immer noch nicht überwunden.

Ja, wir wissen, dass die Globalisierung die finanziellen Spielräume des Staates einengt, weil er von den ansonsten abwandernden Unternehmen keine wirklich gerechten Steuern erheben kann. Und die demografische Entwicklung zwingt uns, die Sozialsysteme durch schwierige Reformen zukunftsfest zu machen.

Auf der anderen Seite sind wir aber stets mit dem Versprechen nach mehr sozialer Sicherheit angetreten, wobei damit meist auch bessere Sozialleistungen verbunden waren.

Nun hat die Agenda 2010 einen Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vollzogen, die in einigen Bereichen auch zu Kürzungen geführt hat. Das kann keinen Sozialdemokraten glücklich machen. Auch wenn damit eine nachhaltige Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und eine Flexibilisierung am Arbeitsmarkt verbunden war, um den enormen Herausforderungen durch die Globalisierung und eine älter werdende Gesellschaft gerecht zu werden.

Dabei wurde teilweise verdrängt, dass gleichzeitig sogar Leistungen ausgebaut wurden, etwa für die meisten Sozialhilfeempfänger oder im Bereich der Bildungs- und Familienpolitik, mit mehr Geld für Betreuung und Ganztagsschulen.

Zwar finden nach den aktuellen Zahlen des ZDF-Politbarometers inzwischen 53 Prozent der SPD-Anhänger die Agenda 2010 „eher gut“. Aber immerhin 35 Prozent stehen ihr immer noch kritisch gegenüber. Wir sind aber auch auf dieses Drittel unserer Anhängerschaft angewiesen, um wieder stärkste politische Kraft im Bundestag zu werden.

Was die SPD nun braucht, ist eine ehrliche Analyse der Agenda-Politik: Welche Entscheidungen waren gut und richtig? Die sollten wir offensiv und konsequent vertreten. Aber wir müssen uns auch fragen: Wo sind Fehler gemacht worden, wo wollen wir unsere Politik anders akzentuieren?

Schwarz-Weiß-Denken hilft nicht weiter. Vielmehr muss es gelingen, Kopf und Seele der Partei miteinander zu versöhnen. Am Ende muss die ganze SPD die eigene Politik aus Überzeugung mittragen, um die Mehrheit der Menschen überzeugen zu können.

Der bevorstehende SPD-Bundesparteitag Ende Oktober bietet hierfür eine gute Chance. Dort wird ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das die Werte und Handlungsmaßstäbe der Sozialdemokratie im Zeitalter der Globalisierung deutlich machen wird.

In dem nun vorgelegten Programmentwurf ist dies schon gut gelungen. Kern unserer Identität bleibt das Streben nach sozialer Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Für unseren Weg wollen wir die solidarische Mehrheit unserer Gesellschaft gewinnen.

Ich bin davon überzeigt, dass unser Parteivorsitzender Kurt Beck vom Parteitag eindrucksvoll bestätigt wird. Er ist menschlich, glaubwürdig und verkörpert die Mitte der Partei. Deshalb ist er besonders geeignet, Kopf und Seele der SPD zusammenzuführen.

Doch es kommt nicht nur auf ein gutes Grundsatzprogramm an. Die Mehrheitsfähigkeit der SPD entscheidet sich letztendlich an ihrer aktuellen Regierungspolitik, an der uns die Menschen in erster Linie messen werden.

Auch hier sind wir auf einem guten Weg. Franz Müntefering arbeitet hartnäckig an einem Mindestlohn und an einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik, die ein besonderes Augenmerk auf junge Menschen, Ältere und Langzeitarbeitslose wirft. Frank-Walter Steinmeier steht für eine verlässliche Außenpolitik, die die Überwindung von Konflikten und Bedrohungen in ihr Zentrum stellt. Peer Steinbrück zielt auf einen ausgeglichenen Haushalt, ohne die notwendigen zusätzlichen Investitionen – etwa im Bereich von Familie sowie von Forschung und Entwicklung – aus den Augen zu verlieren. Ulla Schmidt wird eine Pflegereform vorlegen, die Leistungen verbessert und eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Und Sigmar Gabriel hat sich in kurzer Zeit hohen Respekt für seine nachhaltige Klimapolitik erworben.

Alles in allem kann sich die SPD mit ihrem Personal, ihrer Regierungspolitik und ihrem Programm durchaus sehen lassen. Inhaltlich ist die Lage deutlich besser als es die Umfragen derzeit zum Ausdruck bringen.

Wir können und sollten alle dazu beitragen, dass Stimmung und Wirklichkeit bald wieder in Einklang gebracht werden.