Standpunkt aus Berlin Depesche Nr. 96 (April 2016)

Das gewalttätige Vorgehen von Assad gegen die syrische Bevölkerung hat einen Bürgerkrieg und zusätzliche Flüchtlingsbewegungen ausgelöst, die sich auch in Deutschland auswirken – durch vielfach als Notunterkünfte genutzte Turnhallen, Verunsicherung in der Bevölkerung und in der Folge ein deutliches Erstarken der AfD bei den kürzlichen drei Landtagswahlen.

Dabei waren noch im Oktober letzten Jahres die Meinungsumfragen in Deutschland sehr stabil. Union und SPD lagen praktisch unverändert auf dem Niveau der Bundestagswahl 2013. Und im Dezember zeigten sich laut ZDF-Politbarometer 76 Prozent der Bevölkerung mit ihrer persönlichen Lage zufrieden – ein Rekordwert.

Klar ist: Die enorme Zahl der nach Deutschland eingereisten Flüchtlinge und die bisher nur wenig erfolgreichen Versuche, eine solidarische europäische Lösung zu verabreden, haben bei vielen Menschen das Vertrauen in politische Gestaltungsfähigkeit erschüttert. Die meisten Wähler/innen der AfD wollten vordringlich ihren Protest bekunden. Das ist ärgerlich, zumal diese rechte Partei keine Lösungskompetenz besitzt sondern fremdenfeindliche Stimmung anheizt und damit die Spaltung der Gesellschaft befördert. Im Umkehrschluss heißt es aber auch: wenn es gelingt, durch Bekämpfung von Fluchtursachen und internationale Verabredungen den Zuzug nach Deutschland wirksam zu begrenzen und zugleich die Integration der hier lebenden Flüchtlinge positiv zu gestalten, werden auch die Wahlaussichten der AfD drastisch sinken.

Natürlich ist eine bessere Steuerung der Zuwanderung ganz unabhängig von Wahl­ergebnissen notwendig. Denn es gilt, die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu wahren und denjenigen nachhaltig helfen zu können, die es am dringendsten brauchen, weil sie vor Krieg und Verfolgung fliehen. Es ist zu hoffen, dass Europa sich besinnt und gemeinsam handelt. Die jüngste Vereinbarung mit der Türkei könnte ein erster Schritt dazu sein. Allerdings bleiben noch viele Fragen offen – und die Türkei ein problematischer Partner, angesichts einer autokratischen Politik mit antidemokratischen Zügen.

In den nächsten Monaten müssen wir die Weichen stellen, um den sozialen Zusammenhalt in Deutschland zu stärken. Bereits in der Koalition vereinbarte sozialdemokratische Vorhaben dürfen nicht länger von der Union blockiert sondern müssen zügig umgesetzt werden. Dazu zählen insbesondere die gesetzliche Eindämmung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen, die Solidarrente für Kleinverdiener und das Teilhaberecht für Menschen mit Behinderung. In den anstehenden Beratungen zum Haushalt 2017 müssen zudem die erforderlichen Maßnahmen für ein umfassendes Integrations­konzept finanziell unterlegt werden.

Immerhin scheint jetzt der Einstieg in ein neues Solidarprojekt für Deutschland gelungen zu sein, das Flüchtlinge ebenso einbezieht wie die heimische Bevölkerung. Vizekanzler Sigmar Gabriel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble haben sich auf ein zusätzliches Programm von mehr als 5 Milliarden Euro pro Jahr für Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt geeinigt. Im Einzelnen sieht die Vereinbarung vor:

  • Zusätzlich 2,2 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik (Quali­fizierung, Ausbildung und Arbeitsgelegenheiten) sowohl für Flüchtlinge als auch für Langzeitarbeitslose aus Deutschland.
  • Aufstockung der Mittel für Wohnungsbau und Städtebau um 800 Millionen auf 1,8 Milliarden Euro. Damit verdreifachen wir den sozialen Wohnungsbau in Deutschland.
  • Weitere 450 Millionen Euro 2017 und 500 Millionen Euro ab 2018 für den Kita-Ausbau, Sprachkitas und Initiativen gegen Rechts­extremismus. Für den Kita-Ausbau stellt der Bund damit mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr zur Verfügung.
  • Eine Milliarde Euro zusätzlich für Sprachförderung und Integrationskurse sowie weitere Integrations­maßnahmen.
  • Für die Mindestrente (Solidarrente) werden ab 2017 rund 180 Millionen Euro bereitgestellt, die dann jährlich aufwachsen, um langjährig Beschäftigten eine Mindestrente oberhalb der Sozialhilfe zu garantieren.
  • Für das neue Bundesteilhabegesetz zur besseren Unterstützung von Menschen mit Behinderung werden die notwendigen Mittel im Rahmen der Haushaltsaufstellung bereitgestellt.

Bis 2020 stehen für das Solidarprojekt damit über 25 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit den zusätzlichen Mitteln für Chancen am Arbeitsmarkt, sozialen Wohnungsbau, den Ausbau der Kindertagesstätten, die Mindestrente (Solidarrente) und eine bessere Unterstützung von Menschen mit Behinderungen wird der Zusammenhalt der gesamten Gesellschaft gestärkt. Es gibt also auch Bewegung in die richtige Richtung.