Standpunkt aus Berlin Depesche Nr. 94

Gute Halbzeitbilanz der SPD in der Regierung – Internationale Krisen führen zu Verunsicherung – Zustand der Europäischen Union und Rigorismus in politischen
Debatten besorgniserregend

Wie steht Deutschland zur Mitte der Wahlperiode eigentlich da? Aufgrund aktueller Debatten drohen einige sehr positive Rahmenbedingungen in Vergessenheit zu geraten. Noch nie waren so viele Menschen erwerbstätig. Die Reallöhne sind 2015 im Schnitt um ordentliche drei Prozent gestiegen. Und laut aktuellem Polititbarometer sind 76 Prozent der Bevölkerung mit ihrer persönlichen Lage zufrieden. Das ist ein bislang nicht gemessener Rekordwert.

Die SPD kann auf erhebliche Erfolge bei der Umsetzung des stark von uns geprägten Koalitionsvertrages hin­weisen. Vom Mindestlohn über die Rentenreform, bessere Leis­tungen bei Pflege und Gesundheit bis hin zu zusätz­lichen Milliarden für Kitas, Bildung, Infrastruktur, Stadtent­wicklung und Kommunen – wir haben viel erreicht. Und wir haben noch einiges vor. Unser Land ist zudem nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, sondern bietet gerade im inter­nationalen Vergleich ein besonders hohes Maß an politischer Stabilität, Freiheit und Sicherheit.

Dennoch ist nicht zu verkennen, dass die Verunsicherung bei vielen Menschen wächst. Das hat in erster Linie mit Problemen zu tun, die von außen kommen, sich aber in der Folge konkret auf unsere Lebenswirklichkeit auswirken. Wir spüren zunehmend, dass die Globalisierung nicht nur dazu führt, dass Reisemöglichkeiten und Exportchancen wachsen, sondern auch mit großen Heraus­forderungen verbunden ist.

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Insbesondere der Bürgerkrieg in Syrien und das brutale Agieren der Terrororganisation IS haben zu einem starken Anwachsen der Flüchtlingsbewegung in Richtung Europa und vor allem nach Deutschland geführt. Die Terroranschläge von Paris waren zudem letztlich auch gegen uns gerichtet. Diese und andere Probleme können nicht mit einem nationalen Schalter gestoppt werden sondern bedürfen inter­nationaler Lösungen, an denen sich viele beteiligen müssen. Das ist ein komplexer Prozess, bei dem Deutschland als wichtiger Partner verstärkt Verantwortung übernehmen muss.

Von besonderer Bedeutung ist die Europäische Union, die sich allerdings in einem besorgnis­erregenden Zustand befindet. In vielen Mitgliedstaaten wachsen nationalistische Tendenzen und gewinnen Rechtspopulisten an Boden. Das macht die traditionelle Kompromiss­bildung und solidarische Lösungen auf europäischer Ebene noch schwieriger.

Doch nicht nur auf europäischer Ebene gibt es eine bedenkliche Tendenz zu einem politischen Rigorismus, der eigene Positionen und Interessen unversöhnlich über alles stellt. Zu aktuellen Themen wie TTIP, Vorratsdatenspeicherung, einem Bundeswehreinsatz gegen den IS oder auch den Umgang mit Flüchtlingszahlen kann man mit jeweils guten Gründen unterschiedliche Ansichten haben. Abgeordnete werden allerdings zunehmend angeschrieben, wenn sie zu einem einzelnen Thema eine andere Position vertreten, dann würden sie oder ihre Partei gar nicht mehr gewählt, ganz egal, was man ansonsten vorzuweisen hat. Wenn aber die Zahl solcher „Wutbürger“ von links oder rechts permanent zunimmt, droht unser demo­kratischer Diskurs insgesamt Schaden zu nehmen.

Zu Recht hat Helmut Schmidt darauf hingewiesen, die Demokratie lebe vom Kompromiss und betont: „Wer keine Kompromisse machen kann, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.“ Was aber, wenn sich immer mehr einer Kompromissfindung entziehen oder einmal getroffene Mehrheits­entscheidungen ganz grundsätzlich in Frage stellen, sobald sie der eigenen Meinung nicht entsprechen? Und das bei einer immer komplexer werdenden Welt, die oft sehr differenzierte Lösungen und ein Mehr an Solidarität erfordert?

Trotz der aufgeworfenen Fragen: Ich bin immer noch optimistisch, dass eine Mehrheit der Menschen letztlich Lösungen will und keine prinzipielle Verweigerungshaltung. Unsere Demokratie ist stark – aber auch keine Selbstverständlichkeit. An einem konstruktiven Diskurs sollten sich möglichst viele beteiligen.